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Glockenweihe

Glockenweihe am 30. Januar 2022

Für viele war es ein bewegender Augenblick, als am Heiligabend 2021 bei der Christvesper unter freiem Himmel völlig überraschend die frisch montierte Glocke läutete. Am 30. Januar konnte sie dank ganz großer Unterstützung vieler in einem festlichen Gottesdienst geweiht werden. Der Posaunenchor des Stadtfelds begleitete die Gesänge, Superintendent Stephan Hoenen hielt die Predigt und Beiratsvorsitzender Sören Wilmerstaedt blickte auf drei Augenblicke in der Geschichte der Gemeinde zurück. Er sprach von der Grundsteinlegung 1935, zu der die Gemeinde unter der Leitung von Pastor Hugo Paul Donnerhack und Bischof Peter das Horst-Wessel-Lied anstimmte, erwähnte dann das Jahr 1983, als der Schüler Sören Wilmerstaedt in der Schule gezwungen wurde, den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ von der Jacke zu trennen, und erinnerte schließlich an jenen Herbstabend 2016, da der Beirat der Gemeinde die Idee einer Glocke für die Matthäusgemeinde erstmals formulierte. Die Friedensglocke ziert das Motiv „Schwerter zu Pflugscharen“ und die Inschrift „Selig, die Frieden stiften“. Es gibt der Gemeinde eine Aufgabe: Wie kann die biblische Friedensbotschaft in unserer Stadt weitergetragen und konkret werden? Ein erster Moment war der Friedensweg am 22. Januar, der fast 80 Teilnehmende mit brennenden Kerzen von der Paulus- zur Matthäuskirche führte. Wir sind gespannt, was sich daraus weiter entwickeln wird. Jeder, der möchte, kann sich gern daran beteiligen: in Gesprächsgruppen der Gemeinde, schriftlich oder im persönlichen Gespräch!

Warum eine neue Glockenanlage?

An den meisten Orten der Welt gehören zu Kirchengebäuden Glocken. Sie stiften die Identität des Versammlungsortes nach außen; diese sind an ihnen optisch und akustisch erkennbar. Für die Gemeinden ist das Geläut der Glocken der Ruf zum Gebet. Die Matthäusgemeinde möchte beides erreichen: in die Öffentlichkeit treten und zum Gebet einladen. Dass sich am Standort Freiherr-vom-Stein-Str. 45 überhaupt eine Kirche befindet, ist vielen Menschen unbekannt, auch solchen, die regelmäßig diese Straße passieren. Eine Glockenanlage stellt demgemäß ein Bekenntnis nach außen und zum kirchlichen Standort Matthäusgemeinde dar. Bei der Erbauung 1935 sah man keinen Kirchturm vor. Die Gründe dafür sind unbekannt, aber wahrscheinlich waren Nationalsozialismus wie Sozialismus gleichermaßen froh, dass die Kirche turmlos in den Schatten zurücktrat. Die Kriegseinwirkungen und die spätere Entwicklung in der DDR ließen in der Bezirkshauptstadt Erwägungen zur Errichtung eines Glockenturmes nicht zu. Zudem waren die räumlichen Bedingungen bis weit in die 1990er Jahre durch mehr schlechte als rechte Kompromisslösungen gekennzeichnet.

Die Gemeinde ist sich bewusst, dass das religiöse Leben heute kein Privileg darstellt und Glockentürme deshalb nicht dazu geeignet sind, einen bestimmten Anspruch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit zu unterstreichen. Gebet und Gottesdienst sind aber eine notwendige Lebensäußerung in der Stadt, die Christen exemplarisch in der Gesellschaft und für sie wahrnehmen. Die gegenwärtige Zeit ist von zunehmender Beunruhigung und Verunsicherung geprägt. So erscheint es dringlich, durch das Geläut zum Gebet für den Frieden einzuladen und durch das Gebet den Menschen im städtischen Umfeld einen Ort zu anbieten, an dem sie zur Ruhe und zum Frieden gelangen können. Die Anlage ist so konzipiert, dass sie den öffentlichen Raum diskret einbindet. Dies geschieht vor allem durch die Öffnung des Vorplatzes und die Begehbarkeit des Standorts als Kreuz- und Bibelgarten. Die Glockenanlage soll dem liturgischen Geläut gehören. Ein Uhrschlag ist nicht vorgesehen.

Das Glockenprojekt stellt sich zugleich als Konsequenz einer intensiven Beschäftigung mit der Entstehungsgeschichte des Standorts Freiherr-vom-Stein-Str. 45 dar. Ein Großrelief an der Fassade zeigt noch gestalterische Elemente einer „deutschen Familie“, eine Fehlstelle im beigefügten Bibelzitat weist auf das nach 1945 ausgebrochene Hakenkreuz hin. Der Nationalsozialismus hat die Gemeinde in den  Jahren 1935-1945 stark geprägt, der Pfarrer im damaligen Sprengel Paulus-Ost war ein leidenschaftlicher Nationalsozialist gewesen. Die Hintergründe dieser Geschichte sind durch eine eigene Ausstellung im Jahr 2015 erforscht und dokumentiert worden (pdf). Heute sucht die Matthäusgemeinde durch ihre evangelische Spiritualität und durch die Öffnung ihrer Räume einen eigenen Beitrag für das Zusammenleben im Magdeburger Stadtfeld zu leisten.

Der Entwurf

Die Glockenanlage steht sowohl in Entsprechung zu als auch in Kontrast zum vorhandenen Gebäude. Dies schließt eine schlichte, zurückhaltende Gestaltung ein. Der Glockenturm besteht aus einer kreuzförmigen Stahlkonstruktion, der gestalterisch wie statisch ein Kreuz eingefügt ist. Die Höhe des Glockenstuhls ergibt sich aus der Gebäudehöhe bis Traufe. Um die Anlage so schlicht wie möglich zu halten, wird die Glocke mit Linearantrieb geläutet. Die Tonhöhe der Glocke wude auf c“ festgelegt, die Glocke ist in mittlerer Rippendicke ausgeführt , so das sich daraus ein grundtöniger Klang ergibt.

Der Kreuz- und Bibelgarten ist ebenso schlicht, um ein stimmiges Gesamtbild zu gewinnen. Der Gemeinde war es wichtig, möglichst viel Grün zu erhalten und das Areal zugleich für die Öffentlichkeit einladend begehbar zu gestalten. Dabeimussten auch zwei Bäume weichen, die unwissentlich in unmittelbarer Nähe einer Gasleitung gepflanzt wurden und diese hätten beschädigen können. Ein dritter Baum an der Ostseite, der durch seinen besonders schönen Wuchs auffällt, konnte stehenbleiben. Sitzmauern mit Holzauflagen sowie eine einfache Bepflanzung laden zum Verweilen ein.

Die Gesamtgestaltung fügt sich sehr gut in das Umfeld der Freiherr-vom-Stein-Straße ein und wertet es auf. So kann die Matthäuskirche noch mehr zur Identifikation mit dem städtischen Umfeld rund um den Westernplan beitragen. Außerdem ist der Gemeinde die Verpflichtung bewusst, die sich aus der Fortentwicklung des kirchlichen Lebens als authentischer Lebensäußerung im städtischen Leben mit seiner besonderen Ausstrahlung ergibt.

Sören Wilmerstaedt (Beiratsvorsitzender) / Dr. Reinhard Simon (Pfarrer)